Dienstag, 23. Januar 2018

Rede Bundespräsident Steinmeier zu "Was die Gesellschaft zusammenhält"

Rede Bundespräsident Steinmeier zu "Was die Gesellschaft zusammenhält"



Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede bei der Veranstaltung 'Was die Gesellschaft zusammenhält: Bürgerengagement und Stiftungen für ein starkes Gemeinwesen' der ZEIT-Stiftung anlässlich des Antrittsbesuchs in Hamburg
Als wir den Antrittsbesuch in Hamburg und den heutigen Programmpunkt mit der ZEIT-Stiftung vorbereitet haben, da ahnten wir alle noch nicht, welche innenpolitischen Turbulenzen unser Land in diesen Wochen erleben würde. Beim Senatsfrühstück eben haben wir mindestens so intensiv über die Lage in Berlin wie über die Hansestadt diskutiert. Erlauben Sie mir deshalb, dass ich meine Rede etwas anders ausrichte, als ich es wohl vor einem halben Jahr getan hätte.
"Was die Gesellschaft zusammenhält" steht im Titel dieser Veranstaltung, "Bürgerengagement und Stiftungen für ein starkes Gemeinwesen" gleich dahinter – sehr zu Recht, wie ich finde. Meine Vorredner haben gerade eindrucksvolle Belege aus der Stiftungshauptstadt Hamburg genannt, und wohl niemand hier im Saal möchte die bedeutende Rolle der Stiftungen für den Zusammenhalt in Abrede stellen. Wir könnten unsere Zeit auf dem Podium locker allein mit Best-Practice-Beispielen füllen, denn davon gibt es unzählige: in Bildung, Kultur und im Sozialen, natürlich auch in der Wissenschaft, wie ich vergangene Woche bei meinem Treffen mit dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft vernehmen konnte. Die meisten von Ihnen – liebe Gäste – kennen all das als Geldgeber, Ideengeber, Macher und Mitstreiter aus eigener Erfahrung. Ich freue mich darauf, diese ermutigenden Erfolgsgeschichten gleich auf dem Podium und mit Ihnen hier im Saal auszutauschen.
Ich glaube allerdings, in einer politischen und gesellschaftlichen Situation wie der jetzigen lohnt es sich, zuvor einen Schritt aus der Projektebene der Stiftungswelt herauszutreten und den Begriff Zusammenhalt als solchen zu beleuchten. Er wird derzeit so oft und von so unterschiedlichen Absendern verwendet, dass sein Kern kaum erkennbar ist. Auf der Welle der Debatten um Heimat, Identität und Einwanderungsgesellschaft finden sich Appelle an den Zusammenhalt im gesamten politischen Spektrum. Was jedoch unausgesprochen mitschwingt, ist höchst verschieden: Zusammenhalt von wem? Zusammenhalt wofür? Nicht selten auch: Zusammenhalt wogegen?
Zusammenhalt – dieses kostbare Wort lässt sich als Forderung fast in jede Richtung biegen. Und wer durchs Land reist, wer das politische Berlin verlässt, der hört sehr unterschiedliche Motive, die den Wunsch nach mehr Zusammenhalt begründen. In Ostdeutschland etwa vergleichen viele ältere Jahrgänge die Gegenwart mit ihren Erinnerungen an die Zeit vor 1989, als der Zusammenhalt, wie sie sagen, "ein ganz anderer" war. Bei einigen ist dann Bedauern oder Ostalgie rauszuhören, andere erzählen, wodurch der Zusammenhalt damals geschaffen wurde: durch Zwangskollektivierungen aller Art, in den Schulen, in den Werkhallen, sogar bis ins Private hinein, wenn es in der Mangelwirtschaft galt, sich mit dem Nachbarn gutzustellen für den Fall, dass man mal dringend eine Bohrmaschine leihen oder einen Korb Erdbeeren aus dem Schrebergarten gegen Hosenstoff eintauschen wollte.
Auch in Westdeutschland ist der Ruf nach mehr Zusammenhalt oft mit einem "Früher" als Vergleichsmaßstab verbunden. Die Generation von Herrn Professor Lahnstein erinnert sich noch gut daran, wie der Betriebschef den Pförtner morgens mit Namen grüßte und wusste, auch wissen wollte, ob dessen Frau zuhause zwei oder drei Kinder großzog. Heute ist die Arbeitswelt eine deutlich andere. Bei Mittelständlern gibt es zwar noch Überschaubarkeit und Vertrautheit, aber nicht selten erfüllt dort ein privater Sicherheitsdienst die ehemaligen Aufgaben des Pförtners. Ein Arbeitsplatz besteht nicht mehr eine ganze Erwerbsbiografie lang, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind angehalten, sich mobil und flexibel zu zeigen. Und wer mit wem wie viele Kinder hat oder gemeinsam großzieht, ist längst nicht mehr so eindeutig, muss es auch nicht mehr sein.
Vor Nostalgie sollten wir uns hüten. Unsere Gesellschaft hat große Fortschritte erlebt.
Die soziale Enge vorgeschriebener Lebensentscheidungen sollten wir uns nicht zurückwünschen. Die Internationalisierung von Beziehungen aller Art, nicht nur der politischen, erweitert die Perspektiven und öffnet die Horizonte. Mehr als eine Sprache zu sprechen, schadet nicht. Und einen kommandierten Zusammenhalt weisen wir als Demokraten zu Recht kategorisch zurück. Aber erkennen müssen wir auch: Aus der einst sehr begrenzten Zahl allgemein akzeptierter Lebensmodelle ist über die Jahrzehnte eine kaum überschaubare Fülle erwachsen. Die verlässliche Planbarkeit des eigenen Lebens wich bei einem Großteil der Bevölkerung der ständigen Wandelbarkeit der Lebensumstände: am Arbeitsplatz, der ja weiterhin von überragender Bedeutung für die gesellschaftliche Integration ist, aber auch im kulturellen Miteinander, in sozialen und familiären Bindungen – für Millionen Biografien zweifellos ein Gewinn an Möglichkeiten, zugleich ein Verlust an Gewissheit, an Verbindlichkeiten.
Ganz ungetrübt ist die Freude also nicht. Denn mit der Vielfalt kam es auch zu einer fortschreitenden Fragmentierung unserer Gesellschaft, zu sozialen Nischen, die mancher kaum verlässt. Welche Orte oder Ereignisse vermitteln heute noch Zusammenhalt? Wo begegnen sich Menschen über soziale und politische Grenzen hinweg und erleben sich als große Gemeinschaft? Der Fußball wird oft genannt – Tendenzen wie die Kommerzialisierung mal ausgeklammert. Verbindend wirkt er ganz besonders dann, wenn unsere Nationalmannschaft das Finale einer Europa- oder Weltmeisterschaft erreicht hat. Mit anderen Beispielen in dieser Größenordnung wird es allerdings knapp.
Auch klassische Lernorte für Zusammenhalt über Milieugrenzen hinweg haben an Bindekraft verloren: Die Schulhöfe zum Beispiel, seit die Privatschulen boomen. Oder die Bundeswehr, seit die allgemeine Wehrpflicht ausgesetzt wurde. Auch Kieze und Stadtviertel, sei es durch Unter- oder Überprivilegierung. Selbst mediale Treffpunkte, die lange eine feste Verabredung für Millionen Haushalte waren, wie die Tagesschau abends, gelten inzwischen als eine Option unter vielen. Ein Großteil der Jugend schaut heutzutage gar nicht mehr klassisch Fernsehen, sondern bezieht Nachrichten online, mal hier, mal da. Dass das Internet dafür nicht nur erfreuliche Freiräume, sondern auch weniger erfreuliche Echokammern – Meinungsblasen von Gleichgesinnten, eher sozialen Sprengstoff als sozialen Kitt – hervorgebracht hat, muss ich in diesem Kreis nicht erläutern.
Es gibt also objektivierbare Befunde für den Verlust an Zusammenhalt, die meisten gespeist aus langfristigen Entwicklungen – manche gewünscht und gesucht, andere nur ertragen.
Zugleich gibt es eine aktuelle Debattenlage, die den Topos Zusammenhalt eng verknüpft mit den Geschehnissen seit September 2015, mit der Bewältigung der Flüchtlingskrise. Vor dieser Diskursverschiebung möchte ich warnen. Es stimmt natürlich: Die Polarisierung in unserem Land hat seither eine neue, eine bedenkliche Dynamik erfahren. Aber die Schlüsselfragen zum Zusammenhalt lassen sich nicht durch eine Engführung auf Themen wie den Familiennachzug beantworten. Wir brauchen eine viel breitere Debatte. Wir brauchen eine neue gesellschaftliche Verständigung darüber, in welcher Ordnung, mit welchem Bild von der Zukunft wir gemeinsam leben wollen. Mit diesem Wir meine ich nicht nur Einheimische und Zugewanderte, ich meine auch Alte und Junge, Landmenschen und Städter, konservative und progressive Zeitgenossen, bildungsnahe und bildungsferne – zahlreiche Teile unserer Gesellschaft, die jeweils in ihren Nischen agieren und zu selten miteinander ins Gespräch kommen.
Nur wo es Kommunikation gibt, gibt es auch Kompromisse. Bei der Regierungsbildung spüren wir gerade, wie mühsam dieses Prinzip sein kann. Aber es ist in unserer liberalen Demokratie eines der wichtigsten Prinzipien, die wir haben. Und das einzige Prinzip, mit dem sich Pluralismus wirklich leben lässt.
Vielleicht kann es uns helfen, unsere Vorstellung von Zusammenhalt zu erneuern und ihn nicht als etwas Statisches zu verstehen, sondern ganz im Gegenteil: Zusammenhalt gedeiht doch, wo Meinung und Gegenmeinung zu einem Dialog führen, zu neuen Sichtweisen, neuen Lösungen. Zusammenhalt heißt: Widersprüche aushalten. Zusammenhalt muss nicht zwingend harmonisch, nicht im Konsens funktionieren: Je heterogener eine Gesellschaft, desto öfter braucht sie die konstruktive Reibung. Aber eben dann auch die Bereitschaft und die Fähigkeit, gemeinsame Regeln für die Auseinandersetzung zu definieren und zu akzeptieren. So verstanden, ist Zusammenhalt nichts, was man sich passiv wünschen kann, sondern ein aktiver Lernprozess gemeinsam mit vielen anderen.
Einen solchen Lernprozess sehen wir gerade. Die Parteien wissen schon lange, dass auch sie selbst von der Fragmentierung betroffen sind und es seit Jahren immer schwerer haben, eine Stammwählerschaft von sich zu überzeugen – zu ausdifferenziert sind die Interessenlagen, zu volatil die politischen Neigungen. Damit geht es ihnen im Grunde nicht anders als den Kirchen oder den Gewerkschaften, aber zum ersten Mal ist nun deutlich geworden, dass diese Entwicklung uns lähmen kann, wenn die inhaltlichen Auseinandersetzungen nicht rechtzeitig, nicht intensiv genug geführt werden oder wenn die Bereitschaft zum Kompromiss auf der Strecke bleibt.
Viele Stiftungsvertreter verfolgen das politische Berlin sehr aufmerksam und ziehen Rückschlüsse für ihre eigene Agenda. Wertvoll ist aber gerade jetzt auch der umgekehrte Weg: Nehmen Sie Ihren Erfahrungsschatz aus unzähligen Projekten und beraten Sie die Politik, was in der Fläche funktionieren könnte – und was nicht. Gerd Bucerius, gemeinsam mit seiner Frau Ebelin hochgeschätzter Namensgeber der ZEIT-Stiftung, hat einmal gesagt: "Die Kraft, große Dinge zu entscheiden, kommt aus der ununterbrochenen Beobachtung der kleinen Dinge."
Wie wahr. Und wer könnte anschaulicher aus vitalen kleinen Begegnungen berichten als Sie, liebe Engagierte?
Herr Professor Göring hat vorhin schon erwähnt, wie schnell sich die Hamburger Stiftungen 2015 zusammengeschlossen haben, um die Flüchtlingshilfe zu flankieren. Darauf waren und bleiben Politik und Verwaltung angewiesen, denn die Bürgergesellschaft mit Millionen Freiwilligen leistet bundesweit Herausragendes: Was für ein Kraftakt von der Kleiderkammer bis zum Mentorenprogramm! Wenn ich solche Engagierten treffe, dann frage ich mich: Wurde und wird dieser Einsatz ausreichend gewürdigt? Die Meinungen dazu gehen auseinander, deshalb werde ich, so oft ich kann, Gespräche dieser Art in meinen Kalender einbauen, werde Hände schütteln und Danke sagen.
Mein Dank gilt auch dem gesellschaftlichen Engagement ganz grundsätzlich und heute – pars pro toto – der ZEIT-Stiftung, insbesondere für ihren Schwerpunkt auf Bildung, dem Schlüssel zur Teilhabe. Ich danke von Herzen Ihnen allen hier im Saal, die Sie – jede und jeder auf eigene Weise – Zusammenhalt in Deutschland bewahren, stärken oder neu erringen.
Eine Bitte möchte ich gleich anschließen. Lassen Sie uns auf dem Podium neben den Beispielen des Gelingens auch die Probleme ansprechen: Wie lässt sich sicherstellen, dass Stiftungen, die so oft in der Not helfen, nicht selbst zum Notnagel des Staates, zum Lückenbüßer werden? Wie bringen wir staatliche Daseinsvorsorge und bürgerschaftliche Initiativen immer wieder ins richtige Verhältnis? Oder: Wie gewinnen wir junge Menschen für die Freiwilligenarbeit? Hier in der Bucerius Law School gibt es damit sehr gute Erfahrungen, wie ich gelesen habe. Nicht zuletzt: Wie schaffen wir zeitgemäße Rahmenbedingungen, etwa für vergleichsweise neue Modelle wie die Bürgerstiftung?
Lieber Herr Professor Lahnstein, vielleicht möchten Sie nachher eine Frage in Ihr Resümee mit aufnehmen, die derzeit – wie ich finde – eine der wichtigsten Fragen für unser Land ist:
Wie stiften wir bei aller Vielfalt genug Gemeinsinn für die Zukunft?
Ich freue mich sehr darauf, das jetzt mit Ihnen allen zu diskutieren.

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