Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Eröffnung der Hannover Messe
- Datum: 22.04.2012 in Hannover
Sehr geehrter Herr Premierminister, lieber Wen Jiabao,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber David McAllister,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Weil,
sehr geehrter Herr Lindner,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem deutschen und chinesischen Kabinett,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,
die Hannover Messe hat vor 65 Jahren – damals noch unter dem Namen
Export-Messe – 1947 zum ersten Mal ihre Tore geöffnet. Man muss sich das
vorstellen: Hannover war damals eine kriegszerstörte Stadt. Nach Jahren
der Entbehrung strömten damals die Besucher in Scharen auf das
Messegelände. Sie wollten einen Blick auf die neuesten
Industrieerzeugnisse und Konsumgüter werfen.
Auch das Interesse der Aussteller an der Messe war überwältigend. Es
konnte aus Platzgründen noch nicht einmal die Hälfte der
Teilnahmegesuche berücksichtigt werden. In den Folgejahren hat die Messe
eine wirklich dynamische Entwicklung genommen. Sie wurde immer mehr zu
einer Art industrieller Weltausstellung. Und heute glänzt die Hannover
Messe als weltweit größte Industrieschau.
China hatte schon frühzeitig einen Anteil daran. Denn bereits vor 25
Jahren war China erstmals Partnerland der Hannover Messe. 1987
präsentierten sich zwei Dutzend chinesische Unternehmen dem
internationalen Publikum. Diesmal werden es über 500 Unternehmen sein.
Das heißt, fast jeder zehnte Aussteller wird ein chinesisches
Unternehmen sein. In diesen beiden Zahlen zeigt sich auch die dynamische
Entwicklung des Partnerlandes China.
Auch ich möchte sagen: Es freut mich außerordentlich, dass China
Partnerland ist. Ein herzliches Willkommen allen Ausstellern und allen,
die aus China hier sind. Haben Sie eine erfolgreiche Zeit auf dieser
Hannover Messe. Natürlich, Herr Premierminister, heiße ich auch Sie mit
Ihrer Delegation ganz herzlich willkommen.
Unsere beiden Länder haben in den 40 Jahren unserer diplomatischen
Beziehungen vieles erreicht. Wir haben unsere Partnerschaft auf ein
strategisches Niveau angehoben. Und wir haben vereinbart,
deutsch-chinesische Regierungskonsultationen durchzuführen. Sie haben
zum ersten Mal in Deutschland stattgefunden und werden anschließend in
China stattfinden.
Diese Regierungskonsultationen haben zu einer sehr viel engeren
Zusammenarbeit unserer Minister geführt. Das zeigt sich natürlich in der
klassischen Zusammenarbeit des Bundesaußenministers mit seinem Kollegen
– beide begrüße ich hier ganz herzlich –, aber etwa auch in einer
intensiven Zusammenarbeit der Forschungs- und Wissenschaftsministerin
mit ihrem Kollegen aus China. Ich weiß, dass wir in vielen Bereichen
jetzt intensiv und praktisch zusammenarbeiten – ob es um
Standardisierung in der Elektromobilität, um Themen der
Exportfinanzierung oder um vieles andere mehr geht. Ich treffe den
chinesischen Premierminister jetzt binnen eines Jahres zum dritten Mal.
Ich war erst im Februar wieder in China. Und so verstehen wir Schritt
für Schritt sehr viel besser, was in unseren beiden Ländern vorgeht.
Auch ich kann noch eine Zahl hinzufügen: 2011 hat das bilaterale
Handelsvolumen mit 144 Milliarden Euro einen neuen Rekordwert erreicht.
Wir arbeiten daran, dass es noch mehr wird.
Es hat sich vor allem in der internationalen Finanz- und
Wirtschaftskrise gezeigt, wie uns die Globalisierung heute auch in eine
globale Verantwortung nimmt. Wir haben vor dieser internationalen
Finanz- und Wirtschaftskrise immer wieder darüber geredet: Wie sollten
wir das G 8-Format erweitern? – Darüber gab es endlose Diskussionen. Als
dann aber die Krise da war, haben wir uns als Gruppe der G 20 auf der
Ebene der Staats- und Regierungschefs getroffen. Es ist inzwischen ein
etabliertes Format. Und es ist vollkommen klar, dass diese Gruppe auch
die wirtschaftlichen Schwergewichte dieser Welt widerspiegelt.
Wir alle haben in der Krise gespürt – sei es in der Wirtschaft, als
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder in der Politik: Wir tragen
gemeinsam Verantwortung; und jeder muss seinen Beitrag dazu leisten,
dieser Verantwortung auch gerecht zu werden. Natürlich ist überall über
den richtigen Kurs gestritten und gerungen worden. Ich glaube, China hat
durch eine unglaubliche Ankurbelung der Binnenwirtschaft einen großen
Beitrag dazu geleistet, dass wir einigermaßen schnell aus der
Wirtschaftskrise herauskommen konnten. Deutschland hat sein
Wirtschaftswachstum nach einem großen Einbruch im Jahr 2009 durch seine
Exportstärke wiedergewinnen können – gerade auch aufgrund der
Exportentwicklung nach China.
Auch die Europäische Union hatte ihre Verantwortung innerhalb dieser
Finanz- und Wirtschaftskrise zu tragen. Wir haben aber auch bitter
spüren müssen, dass eine zu hohe Verschuldung von Staaten eine
Angreifbarkeit durch die Märkte erzeugt. Wir sind immer noch dabei,
diese Schuldenkrise zu überwinden. Auch hier hat China immer wieder
deutlich gemacht: Wir vertrauen Europa, wir vertrauen dem Euro. Ich habe
in vielen Diskussionen mit dem chinesischen Premierminister darüber
gesprochen, wie wir vorangehen und welche politischen Entscheidungen wir
treffen müssen.
Dazu gehört natürlich zum einen, dass wir die hohe Staatsverschuldung
zurückführen müssen. Deutschland ist sich dessen bewusst, weil wir
insbesondere einen demografischen Wandel haben. Auf der anderen Seite
müssen wir natürlich auch Wachstum ankurbeln. Das sind die zwei Säulen
des Portals zu einer guten zukunftsfähigen Entwicklung. Ich verstehe
überhaupt nicht, wie diese Säulen zum Teil immer wieder gegeneinander
gestellt werden. Sie ergänzen sich. Solide Haushaltsführung ist ein
Faktor, um Wachstum zu erzeugen, aber natürlich nicht der einzige.
Eines ist auch klar: Wer hoch verschuldet ist, kann Wachstum nicht
durch immer neue Staatsprogramme schaffen, sondern muss versuchen,
Wachstumskräfte allgemeiner Art freizusetzen. Hierfür ist es ganz
wichtig, dass wir die Vorzüge des europäischen Binnenmarkts nutzen und
den Binnenmarkt vervollkommnen. Wir müssen schauen: Was sind die besten
Erfahrungen der einzelnen Länder innerhalb der Europäischen Union mit
bestimmten politischen Maßnahmen? Wir müssen die Arbeitsmärkte öffnen,
damit mehr Arbeitsplätze entstehen, und wir müssen vor allen Dingen
schauen, dass die Jugendarbeitslosigkeit in Europa abnimmt. Das heißt
natürlich, dass wir Anreize schaffen müssen, damit junge Menschen
Beschäftigung bekommen. Es zeigt sich immer wieder, dass zu rigide
geregelte Arbeitsmärkte letztlich keine Chancen für junge Menschen
bieten.
Herr Lindner, ich darf Ihnen sagen: Die Bundesregierung beabsichtigt
zumindest nicht, die Steuern zu erhöhen. Wir glauben, dass dies bei
Erbschaftsteuer, Vermögensteuer und auch anderen Steuern kontraproduktiv
wäre. Insofern darf ich Ihre Ängste hier außer Kraft setzen. Sie können
dann noch etwas fröhlicher der Hannover Messe entgegensehen.
Wir haben einen Balanceakt zu vollführen – das will ich deutlich
sagen –, weil die internationale Gemeinschaft erwartet, dass Deutschland
einen Beitrag zum Wachstum leistet und wir gleichzeitig auf dem Weg
sind, entsprechend unserer Schuldenbremse solide Finanzen zu schaffen.
Hier das richtige Maß zu finden, das ist sicherlich auch Thema der
jeweiligen politischen Diskussion. Aber beides muss uns gelingen. Denn
auf Deutschland ruht natürlich auch Verantwortung für eine vernünftige
weltwirtschaftliche Entwicklung.
Meine Damen und Herren, ein Punkt eint die chinesische Sichtweise und
unsere: Die Voraussetzung, um in der modernen Industrie mithalten zu
können und innovative Produkte auf den Markt zu bringen, heißt
Wissenschaft, Entwicklung, Kreativität, Ingenieurswesen,
Weiterentwicklung, niemals zufrieden sein, immer weitermachen und sich
nicht mit Stillstand zufriedengeben. Das ist die Aufgabe, der sich die
Bundesregierung in ganz besonderer Weise verschrieben hat.
Das kann man nicht nur am „Hermes Award“ sehen, sondern das kann man
auch an unserer gesamten Hightech-Strategie erkennen. Ich glaube, das
ist schon in den Jahren seit 2005 sichtbar geworden; und seit 2009 noch
einmal in ganz besonderer Weise, als wir gesagt haben, wir geben jedes
Jahr drei Milliarden Euro zusätzlich für Wissenschaft und Technologie
aus. Das zeigt sich aber auch darin, dass wir systematischer vorgehen
und wirtschaftliche Produktion und Forschungsaktivitäten zusammen sehen
und in der Hightech-Strategie und der Wissenschaftsunion wirklich Hand
in Hand arbeiten. Denn die Schwäche Deutschlands, vieles in der
Forschung zu können, das dann aber doch nicht in Produkte umzuwandeln,
muss systematisch abgebaut werden. Hier sind wir auf einem guten Weg.
Unser Partnerland China auf der Hannover Messe zeigt uns, dass auch
woanders gedacht, geforscht, gehandelt wird. Deshalb sind wir auf der
einen Seite Partner, aber natürlich auch immer wieder Wettbewerber um
die beste Lösung. Wir wissen gerade in Deutschland, dass wir für die
Zukunft vor allen Dingen unsere Fachkräftebasis sichern müssen. Das ist
in einem Land, dessen Durchschnittsalter steigt, nicht immer ganz
einfach. Es ist in einem Land nicht ganz einfach, in dem die
Studiengänge der Mathematik, der Ingenieurswissenschaften, der
Naturwissenschaften zu den schwierigeren gehören. Ich will niemanden
beleidigen – damit das gleich klar ist, der etwas anderes studiert. Aber
wir müssen dafür werben, dass wir für die sogenannten MINT-Fächer
genügend Bewerber haben und wir eine ausreichende Grundlage für die
Realwirtschaft in unserem Lande bilden.
Premierminister Wen Jiabao hat es eben gesagt: Deutschland und China
eint ein klares Bekenntnis zum Industrieland. Uns ist natürlich
vollkommen klar, dass die IT-Industrie eine wichtige Säule eines
zukunftsorientierten Industrielandes ist und die Durchdringung der
realwirtschaftlichen Prozesse mit den Möglichkeiten der
Informationstechnologie immer weiter voranschreitet. Dafür steht ja auch
das Stichwort von 4.0. Aber all dies kann nur Platz greifen, wenn man
die industrielle Grundlage nicht vergisst. Deutschland als ein relativ
rohstoffarmes Land muss vor allen Dingen auf seine menschlichen
Fähigkeiten und Fertigkeiten setzen. Und deshalb haben wir in den
nächsten Jahren viel zu tun.
Wir müssen uns natürlich um eine gezielte Zuwanderung bemühen. Hier
haben wir etliche Erfolge erzielt und Beschlüsse gefasst. Ganz wichtige
Punkte sind das Anerkennungsgesetz, also eine leichtere Anerkennung von
Berufsabschlüssen, die im Ausland gemacht wurden, und natürlich die
Umsetzung der EU-Richtlinien zur besseren Beschäftigung von
internationalen Fachkräften.
Meine Damen und Herren, das Leitthema hier heißt „greentelligence“. –
Wir müssen aufpassen, dass die deutschen Erfindungen auch noch im
deutschen Wortschatz auftauchen, sonst können wir bald jede neue
Erfindung nur noch auf Englisch beschreiben. Das ist nicht schlecht,
aber ich finde auch, so schlecht ist unsere Sprache eigentlich nicht.
Unsere Vorgänger haben es auch geschafft, alles noch mit einem deutschen
Namen zu belegen. –
Also, wir haben hier auf der Hannover Messe natürlich auch einen
Schwerpunkt im Bereich der Energiewende und der Energietechnologien. Ich
darf Ihnen sagen, dass die Energiewende selbstverständlich Chefsache
ist. Aber allein Chefsache zu sein, genügt nicht, sondern es müssen auch
Entscheidungen zwischen Bund, Ländern, Kommunen und Wirtschaft
getroffen werden, Planfeststellungsverfahren müssen abgeschlossen
werden. All das muss zusammengehen. Insofern steht Deutschland hier vor
einer großen Herausforderung, von der ich genauso wie Sie, Herr Lindner,
glaube, dass wir sie bewältigen können, dass sie uns mit unserer
Ingenieurskunst, mit unseren Fähigkeiten und Fertigkeiten, effizient mit
Energie umzugehen, geradezu ins Stammbuch geschrieben ist. Es ist schön
und geradezu beispielgebend, dass der „Hermes Award“ heute an ein
Unternehmen verliehen wurde, das auf seine Art einen Beitrag dazu
leistet.
Ich wünsche allen, die hier ausstellen, interessante Tage. Ich freue
mich morgen auf den Rundgang und das deutsch-chinesische Businesstreffen
mit den Wirtschaftsvertretern und darf Ihnen, die Sie hier
Ausstellerinnen und Aussteller sind, die Sie sich hier als Unternehmen
präsentieren, viel Erfolg wünschen. Und jetzt, damit das Ganze auch
richtig starten kann, erkläre ich die Hannover Messe für eröffnet, meine
Damen und Herren.
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