Montag, 23. April 2012

Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Eröffnung der Hannover Messe

Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Eröffnung der Hannover Messe

 
Datum: 22.04.2012 in Hannover
Sehr geehrter Herr Premierminister, lieber Wen Jiabao, 

sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber David McAllister,

sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Weil,

sehr geehrter Herr Lindner,

liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem deutschen und chinesischen Kabinett,

Exzellenzen,

meine Damen und Herren,

die Hannover Messe hat vor 65 Jahren – damals noch unter dem Namen Export-Messe – 1947 zum ersten Mal ihre Tore geöffnet. Man muss sich das vorstellen: Hannover war damals eine kriegszerstörte Stadt. Nach Jahren der Entbehrung strömten damals die Besucher in Scharen auf das Messegelände. Sie wollten einen Blick auf die neuesten Industrieerzeugnisse und Konsumgüter werfen.

Auch das Interesse der Aussteller an der Messe war überwältigend. Es konnte aus Platzgründen noch nicht einmal die Hälfte der Teilnahmegesuche berücksichtigt werden. In den Folgejahren hat die Messe eine wirklich dynamische Entwicklung genommen. Sie wurde immer mehr zu einer Art industrieller Weltausstellung. Und heute glänzt die Hannover Messe als weltweit größte Industrieschau.

China hatte schon frühzeitig einen Anteil daran. Denn bereits vor 25 Jahren war China erstmals Partnerland der Hannover Messe. 1987 präsentierten sich zwei Dutzend chinesische Unternehmen dem internationalen Publikum. Diesmal werden es über 500 Unternehmen sein. Das heißt, fast jeder zehnte Aussteller wird ein chinesisches Unternehmen sein. In diesen beiden Zahlen zeigt sich auch die dynamische Entwicklung des Partnerlandes China.

Auch ich möchte sagen: Es freut mich außerordentlich, dass China Partnerland ist. Ein herzliches Willkommen allen Ausstellern und allen, die aus China hier sind. Haben Sie eine erfolgreiche Zeit auf dieser Hannover Messe. Natürlich, Herr Premierminister, heiße ich auch Sie mit Ihrer Delegation ganz herzlich willkommen.

Unsere beiden Länder haben in den 40 Jahren unserer diplomatischen Beziehungen vieles erreicht. Wir haben unsere Partnerschaft auf ein strategisches Niveau angehoben. Und wir haben vereinbart, deutsch-chinesische Regierungskonsultationen durchzuführen. Sie haben zum ersten Mal in Deutschland stattgefunden und werden anschließend in China stattfinden.

Diese Regierungskonsultationen haben zu einer sehr viel engeren Zusammenarbeit unserer Minister geführt. Das zeigt sich natürlich in der klassischen Zusammenarbeit des Bundesaußenministers mit seinem Kollegen – beide begrüße ich hier ganz herzlich –, aber etwa auch in einer intensiven Zusammenarbeit der Forschungs- und Wissenschaftsministerin mit ihrem Kollegen aus China. Ich weiß, dass wir in vielen Bereichen jetzt intensiv und praktisch zusammenarbeiten – ob es um Standardisierung in der Elektromobilität, um Themen der Exportfinanzierung oder um vieles andere mehr geht. Ich treffe den chinesischen Premierminister jetzt binnen eines Jahres zum dritten Mal. Ich war erst im Februar wieder in China. Und so verstehen wir Schritt für Schritt sehr viel besser, was in unseren beiden Ländern vorgeht.

Auch ich kann noch eine Zahl hinzufügen: 2011 hat das bilaterale Handelsvolumen mit 144 Milliarden Euro einen neuen Rekordwert erreicht. Wir arbeiten daran, dass es noch mehr wird.
Es hat sich vor allem in der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise gezeigt, wie uns die Globalisierung heute auch in eine globale Verantwortung nimmt. Wir haben vor dieser internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise immer wieder darüber geredet: Wie sollten wir das G 8-Format erweitern? – Darüber gab es endlose Diskussionen. Als dann aber die Krise da war, haben wir uns als Gruppe der G 20 auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs getroffen. Es ist inzwischen ein etabliertes Format. Und es ist vollkommen klar, dass diese Gruppe auch die wirtschaftlichen Schwergewichte dieser Welt widerspiegelt.

Wir alle haben in der Krise gespürt – sei es in der Wirtschaft, als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder in der Politik: Wir tragen gemeinsam Verantwortung; und jeder muss seinen Beitrag dazu leisten, dieser Verantwortung auch gerecht zu werden. Natürlich ist überall über den richtigen Kurs gestritten und gerungen worden. Ich glaube, China hat durch eine unglaubliche Ankurbelung der Binnenwirtschaft einen großen Beitrag dazu geleistet, dass wir einigermaßen schnell aus der Wirtschaftskrise herauskommen konnten. Deutschland hat sein Wirtschaftswachstum nach einem großen Einbruch im Jahr 2009 durch seine Exportstärke wiedergewinnen können – gerade auch aufgrund der Exportentwicklung nach China.

Auch die Europäische Union hatte ihre Verantwortung innerhalb dieser Finanz- und Wirtschaftskrise zu tragen. Wir haben aber auch bitter spüren müssen, dass eine zu hohe Verschuldung von Staaten eine Angreifbarkeit durch die Märkte erzeugt. Wir sind immer noch dabei, diese Schuldenkrise zu überwinden. Auch hier hat China immer wieder deutlich gemacht: Wir vertrauen Europa, wir vertrauen dem Euro. Ich habe in vielen Diskussionen mit dem chinesischen Premierminister darüber gesprochen, wie wir vorangehen und welche politischen Entscheidungen wir treffen müssen.

Dazu gehört natürlich zum einen, dass wir die hohe Staatsverschuldung zurückführen müssen. Deutschland ist sich dessen bewusst, weil wir insbesondere einen demografischen Wandel haben. Auf der anderen Seite müssen wir natürlich auch Wachstum ankurbeln. Das sind die zwei Säulen des Portals zu einer guten zukunftsfähigen Entwicklung. Ich verstehe überhaupt nicht, wie diese Säulen zum Teil immer wieder gegeneinander gestellt werden. Sie ergänzen sich. Solide Haushaltsführung ist ein Faktor, um Wachstum zu erzeugen, aber natürlich nicht der einzige.

Eines ist auch klar: Wer hoch verschuldet ist, kann Wachstum nicht durch immer neue Staatsprogramme schaffen, sondern muss versuchen, Wachstumskräfte allgemeiner Art freizusetzen. Hierfür ist es ganz wichtig, dass wir die Vorzüge des europäischen Binnenmarkts nutzen und den Binnenmarkt vervollkommnen. Wir müssen schauen: Was sind die besten Erfahrungen der einzelnen Länder innerhalb der Europäischen Union mit bestimmten politischen Maßnahmen? Wir müssen die Arbeitsmärkte öffnen, damit mehr Arbeitsplätze entstehen, und wir müssen vor allen Dingen schauen, dass die Jugendarbeitslosigkeit in Europa abnimmt. Das heißt natürlich, dass wir Anreize schaffen müssen, damit junge Menschen Beschäftigung bekommen. Es zeigt sich immer wieder, dass zu rigide geregelte Arbeitsmärkte letztlich keine Chancen für junge Menschen bieten.

Herr Lindner, ich darf Ihnen sagen: Die Bundesregierung beabsichtigt zumindest nicht, die Steuern zu erhöhen. Wir glauben, dass dies bei Erbschaftsteuer, Vermögensteuer und auch anderen Steuern kontraproduktiv wäre. Insofern darf ich Ihre Ängste hier außer Kraft setzen. Sie können dann noch etwas fröhlicher der Hannover Messe entgegensehen.

Wir haben einen Balanceakt zu vollführen – das will ich deutlich sagen –, weil die internationale Gemeinschaft erwartet, dass Deutschland einen Beitrag zum Wachstum leistet und wir gleichzeitig auf dem Weg sind, entsprechend unserer Schuldenbremse solide Finanzen zu schaffen. Hier das richtige Maß zu finden, das ist sicherlich auch Thema der jeweiligen politischen Diskussion. Aber beides muss uns gelingen. Denn auf Deutschland ruht natürlich auch Verantwortung für eine vernünftige weltwirtschaftliche Entwicklung.

Meine Damen und Herren, ein Punkt eint die chinesische Sichtweise und unsere: Die Voraussetzung, um in der modernen Industrie mithalten zu können und innovative Produkte auf den Markt zu bringen, heißt Wissenschaft, Entwicklung, Kreativität, Ingenieurswesen, Weiterentwicklung, niemals zufrieden sein, immer weitermachen und sich nicht mit Stillstand zufriedengeben. Das ist die Aufgabe, der sich die Bundesregierung in ganz besonderer Weise verschrieben hat.

Das kann man nicht nur am „Hermes Award“ sehen, sondern das kann man auch an unserer gesamten Hightech-Strategie erkennen. Ich glaube, das ist schon in den Jahren seit 2005 sichtbar geworden; und seit 2009 noch einmal in ganz besonderer Weise, als wir gesagt haben, wir geben jedes Jahr drei Milliarden Euro zusätzlich für Wissenschaft und Technologie aus. Das zeigt sich aber auch darin, dass wir systematischer vorgehen und wirtschaftliche Produktion und Forschungsaktivitäten zusammen sehen und in der Hightech-Strategie und der Wissenschaftsunion wirklich Hand in Hand arbeiten. Denn die Schwäche Deutschlands, vieles in der Forschung zu können, das dann aber doch nicht in Produkte umzuwandeln, muss systematisch abgebaut werden. Hier sind wir auf einem guten Weg.

Unser Partnerland China auf der Hannover Messe zeigt uns, dass auch woanders gedacht, geforscht, gehandelt wird. Deshalb sind wir auf der einen Seite Partner, aber natürlich auch immer wieder Wettbewerber um die beste Lösung. Wir wissen gerade in Deutschland, dass wir für die Zukunft vor allen Dingen unsere Fachkräftebasis sichern müssen. Das ist in einem Land, dessen Durchschnittsalter steigt, nicht immer ganz einfach. Es ist in einem Land nicht ganz einfach, in dem die Studiengänge der Mathematik, der Ingenieurswissenschaften, der Naturwissenschaften zu den schwierigeren gehören. Ich will niemanden beleidigen – damit das gleich klar ist, der etwas anderes studiert. Aber wir müssen dafür werben, dass wir für die sogenannten MINT-Fächer genügend Bewerber haben und wir eine ausreichende Grundlage für die Realwirtschaft in unserem Lande bilden.

Premierminister Wen Jiabao hat es eben gesagt: Deutschland und China eint ein klares Bekenntnis zum Industrieland. Uns ist natürlich vollkommen klar, dass die IT-Industrie eine wichtige Säule eines zukunftsorientierten Industrielandes ist und die Durchdringung der realwirtschaftlichen Prozesse mit den Möglichkeiten der Informationstechnologie immer weiter voranschreitet. Dafür steht ja auch das Stichwort von 4.0. Aber all dies kann nur Platz greifen, wenn man die industrielle Grundlage nicht vergisst. Deutschland als ein relativ rohstoffarmes Land muss vor allen Dingen auf seine menschlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten setzen. Und deshalb haben wir in den nächsten Jahren viel zu tun.

Wir müssen uns natürlich um eine gezielte Zuwanderung bemühen. Hier haben wir etliche Erfolge erzielt und Beschlüsse gefasst. Ganz wichtige Punkte sind das Anerkennungsgesetz, also eine leichtere Anerkennung von Berufsabschlüssen, die im Ausland gemacht wurden, und natürlich die Umsetzung der EU-Richtlinien zur besseren Beschäftigung von internationalen Fachkräften.

Meine Damen und Herren, das Leitthema hier heißt „greentelligence“. – Wir müssen aufpassen, dass die deutschen Erfindungen auch noch im deutschen Wortschatz auftauchen, sonst können wir bald jede neue Erfindung nur noch auf Englisch beschreiben. Das ist nicht schlecht, aber ich finde auch, so schlecht ist unsere Sprache eigentlich nicht. Unsere Vorgänger haben es auch geschafft, alles noch mit einem deutschen Namen zu belegen. –

Also, wir haben hier auf der Hannover Messe natürlich auch einen Schwerpunkt im Bereich der Energiewende und der Energietechnologien. Ich darf Ihnen sagen, dass die Energiewende selbstverständlich Chefsache ist. Aber allein Chefsache zu sein, genügt nicht, sondern es müssen auch Entscheidungen zwischen Bund, Ländern, Kommunen und Wirtschaft getroffen werden, Planfeststellungsverfahren müssen abgeschlossen werden. All das muss zusammengehen. Insofern steht Deutschland hier vor einer großen Herausforderung, von der ich genauso wie Sie, Herr Lindner, glaube, dass wir sie bewältigen können, dass sie uns mit unserer Ingenieurskunst, mit unseren Fähigkeiten und Fertigkeiten, effizient mit Energie umzugehen, geradezu ins Stammbuch geschrieben ist. Es ist schön und geradezu beispielgebend, dass der „Hermes Award“ heute an ein Unternehmen verliehen wurde, das auf seine Art einen Beitrag dazu leistet.

Ich wünsche allen, die hier ausstellen, interessante Tage. Ich freue mich morgen auf den Rundgang und das deutsch-chinesische Businesstreffen mit den Wirtschaftsvertretern und darf Ihnen, die Sie hier Ausstellerinnen und Aussteller sind, die Sie sich hier als Unternehmen präsentieren, viel Erfolg wünschen. Und jetzt, damit das Ganze auch richtig starten kann, erkläre ich die Hannover Messe für eröffnet, meine Damen und Herren.

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